Jahrespressekonferenz 2000 des Berliner Fahrgastverbandes IG
Jahrespressekonferenz 2000 des Berliner Fahrgastverbandes IGEB am 8. Februar 2000
Gerhard J. Curth, Vorsitzender
Matthias Horth, Stellv. Vorsitzender
Christfried Tschepe, Stellv. Vorsitzender
1. Preistreiberei ohne Ende?
"Tarifstrukturanpassungen" zum 1. April 2000 hatte der VBB-Aufsichtsrat 1999 beschlossen, Erhöhungen sollte es im Jahr 2000 nicht geben. Doch seit Wochen wird intensiv über höhere VBB-Tarife diskutiert. Der Berliner Fahrgastverband IGEB sagt hierzu eindeutig: "Nein!".Die Forderungen, bereits im Jahr 2000 erneut die Preise für den öffentlichen Nahverkehr in Berlin und Brandenburg anzuheben, werden vom Berliner Fahrgastverband IGEB entschieden abgelehnt. Besonders unverständlich ist, daß die Zeitkartenbesitzer, also die Stammkunden überproportional zur Kasse gebeten werden sollen.
Genannt seien hier nur einige der zahlreichen Argumente gegen weitere Erhöhungen des VBB-Tarifs:
- "Die Preisrelation der ÖPNV-Tarife im Verhältnis zu den Kosten des motorisierten Individual-verkehrs hat sich in den letzten Jahren zu Ungunsten des ÖPNV entwickelt. Der Benzinpreis stieg etwa seit 1950 von rund 0,60 DM/Liter auf den 2 1/2-fachen Wert, der ÖPNV-Tarif um das 14-fache von 0,25 DM auf 3,60 DM." Aus: Zukunftsfähiges Berlin. Bericht der Enquetekommission des Abgeordnetenhauses von Berlin, 13. Wahlperiode. Berlin 1999.
- Die drastischen Tariferhöhungen in den letzten 10 Jahren haben die wirtschaftliche Lage der BVG nicht nachhaltig verbessert, aber zu einem Verlust von rund 25% der Fahrgäste geführt.
- Seit Jahren gibt es nur eine geringfügige Inflationsrate (um 1%), und auch die Einkommen-sentwicklung stagniert nahezu. Deshalb wurden die Beitragsbemessungsgrenzen der Sozialversi-cherungen im Osten Deutschlands für das Jahr 2000 um 1,4% gesenkt!
- Die durchschnittlichen Einkommen im Osten Deutschlands liegen derzeit bei 75% des West-durchschnitts. Deshalb müssen die VBB-Tarife auch entsprechend niedriger sein als die Tarife in Frankfurt am Main, Stuttgart oder München.
2. Braucht Berlin Tick.et, den elektronischen Fahrschein?
Einen Versuch ist es Wert, das neue Tick.et. Aber vor einer Einführung sind viele Fragen zu klären, nicht zuletzt die der Kosten.
Seit der Erfindung des Personenverkehrs gibt es Tickets - bisher waren sie meist aus Papier oder Pappe. Nun gibt es "Tick.et". So heißt die Plastikkarte, von der zumindest die BVG wahre Wunderdinge erwartet. Vor allem Gelegenheitsfahrgäste könnten tatsächlich von dem einfacheren Handling gegenüber dem doch recht komplizierten Kauf einer Fahrkarte am Automaten profitieren. Für den Fall einer allgemeinen Einführung sind zuvor jedoch noch grundsätzliche Dinge zu regeln:
- Vor allem darf das Fahren mit dem Tick.et für die Fahrgäste nicht unbequemer werden. Dauerkunden der BVG haben zur Zeit eine Karte mit einer Wertmarke. Sie müssen keine tick.et-Punkte zum "Aufladen" ansteuern, sie müssen nicht "ein- oder auschecken". Dieses bequeme Handling muss für alle Abonnenten beibehalten werden.
- Das ständige Ein-, vor allem aber das Auschecken muss vereinfacht werden oder entfallen. Die Vision der BVG, dass sich Fahrgäste in überfüllten Bussen und Bahnen zwischen zwei Haltestellen zu irgendwelchen Terminals durchkämpfen, um auszuchecken, ist nicht praktikabel. Man denke dabei an Linien wie die Busse 100 oder 148 oder die Straßenbahn 20.
- Das System muss transparent für die Benutzer sein. Der vorgesehenen Plastikkarte sieht man weder an, ob man korrekt ein- oder ausgecheckt ist, noch ist zu erkennen, ob noch genügend Werteinheiten für die geplante Fahrt gespeichert sind. Es darf kein "böses Erwachen" für gut gläubige Fahrgäste geben, wenn sie in eine Kontrolle geraten.
- Das elektronische Ticket darf nicht dazu missbraucht werden, durch die Hintertür ein un-durchschaubares Tarifsystem einzuführen.
- Die Buchungsvorgänge müssen nachvollziehbar dokumentiert werden, damit Kunden die Möglichkeit haben, die Abrechnung auf Fehler zu überprüfen
- Wenn das System tatsächlich eingeführt wird, dann muss dies im gesamten Bereich des Verkehrsverbundes VBB geschehen. Ein dauerhafter Mix aus elektronischem Ticket und Papierfahrschein wird abgelehnt.
- Der Datenschutz muss absolut gewährleistet sein. Es darf nicht dazu kommen, dass die dank Tick.et elektronisch gespeicherten Wege durch die Stadt unter dem Slogan "Zusatznutzen" zu irgendwelchen Werbezwecken missbraucht werden. Die (theoretische) Möglichkeit, dass z.B. Pendlern von einem Kaufhaus an ihrem täglichen Arbeitsweg automatisch Werbung zugesandt wird - "weil sie da so häufig vorbeikommen", muss grundsätzlich ausgeschlossen werden.
3. Zugangssperren bei der U-Bahn - was für ein Unsinn!
Der Berliner Fahrgastverband IGEB wendet sich mit Nachdruck gegen die Einführung von Zugangssperren bei der Berliner U-Bahn. Einen Nutzen haben ohne Zweifel die Hersteller solcher Systeme, aber die Fahrgäste haben nur Nachteile.Im Zusammenhang mit dem elektronischen Fahrschein "Tick.et" und mit "Schwarzfahrerzahlen" wird die Einführung von mechanischen Zugangssperren bei der Berliner U-Bahn diskutiert. Beide Zusammenhänge sind konstruiert und falsch:
- Die Einführung des "Tick.et" erfordert keine U-Bahn-Zugangssperren. Das zeigt der jetzige Probelauf. Und auch künftig würden ja beispielsweise Bus und Straßenbahn ohne Zugangssperre verkehren müssen. Warum also sollten sie bei der U-Bahn erforderlich sein?
- In anderen Städten mit Zugangssperren gibt es ähnlich hohe "Schwarzfahrerquoten" wie in Berlin, so z.B. bei der Metro in Paris.
- Mehrkosten
Die Kosten für Anschaffung und Unterhalt der Zugangssperren können nie mals "eingespielt" werden, dass ist auch BVG-intern bekannt. - Schließung von Zugängen
Zugangssperren müssen mit Personal besetzt sein. Das heißt, dass die BVG auf den U-Bahnhöfen zusätzliches Personal einsetzen muss. Wegen des Sparzwangs ist das aber nicht möglich. Die Folgen sind vorhersehbar und in London zu besichtigen: Die Zahl der Zugänge je Bahnhof ist dort auf ein Minimum reduziert, und in den verkehrsschwachen Zeiten werden einzelne Zugänge und sogar ganze Bahnhöfe geschlossen. - Sicherheitsrisiken
Zugangssperren stellen insbesondere im Brandfall ein hohes Sicherheitsrisiko für Flüchtende dar. Außerdem sind sie bei Havariefällen ein Hindernis für Einsatz- und Rettungskräfte. - Zeitverluste
Die Zugangssperren sind eine physische und psychische Hemmschwelle beim Zugang zur U-Bahn. Insbesondere im Berufsverkehr wird es immer wieder zu Staus vor den Sperren und damit zu Zeitverlusten für die Fahrgäste kommen, da eine Dimensionierung auf die Spitzenlast nicht bezahlbar ist. - Bauliche Probleme
Auf vielen Bahnhöfen, insbesondere im Kleinprofilnetz, sind beim Bau von Zugangssperren Probleme mit dem zur Verfügung stehenden Platz und mit dem Denkmalschutz zu erwarten. Außerdem wird der notwendige Bau weiterer "Aufzugs-Zugänge" erschwert.
4. Zufriedene Fahrgäste und zufriedene BVG - gibt's das?
Beides ist möglich. Werden Busse und Bahnen schneller, sparen die Fahrgäste Zeit und die Ver-kehrsbetriebe Kosten.Busspuren, eigene Trassen bzw. auf der Fahrbahn abmarkierte Trassen für die Straßenbahn, Vorrangschaltungen an den Kreuzungen, Haltestellenkaps - die Liste der Maßnahmen zur Be-schleunigung der öffentlichen Verkehrsmittel ist lang, altbekannt, erprobt und bewährt - aber in Berlin vollkommen unzureichend umgesetzt. Insbesondere der ehemalige Verkehrsstaatssekretär Ingo Schmitt hat nahezu alle Maßnahmen zur Beschleunigung von Bussen und Straßen bahnen in Berlin unterbunden, wenn dadurch der Autoverkehr auch nur gering fügig behindert wurde. Deshalb gibt es in Berlin einen immensen Nachholbe darf und somit ein immenses Potenzial, um die BVG attraktiver und preis werter fahren zu lassen.
Der Berliner Fahrgastverband IGEB fordert die neue Verkehrsstaatssekretärin auf, auf diesem Gebiet schnellstens zu handeln. Bisherige Äußerungen von Frau Krautzberger geben Anlass zur Hoffnung, dass dies schon bald geschieht. 5. U5-Verlängerung - wer ist eigentlich noch dafür?
Aus allen politischen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Richtungen werden Zweifel an dem Vorhaben geäußert, die U5 vom Alexanderplatz zum Lehr ter Bahnhof zu verlängern. Der Berliner Fahrgastverband hat den Nutzen die ses Milliardenprojektes schon seit Jahren bezweifelt - bisher vergeblich. Wie soll es nun weitergehen?
Als 1999 der Planfeststellungsbeschluss für die U5-Verlängerung bekannt gemacht wurde, schienen alle Argumente gegen dieses Milliardenprojekt ver geblich gewesen zu sein. Doch nun gibt es kritische Stimmen nicht nur von Einzelhändlern und Autofahrern, die nur die Baustellen fürchten, sondern auch aus den Reihen beider Regierungsfraktionen und z.B. vom DIW. Befür worter argumentieren demgegenüber mit den Vorleistungen im Parlaments- und Regierungsviertel und warnen vor Rückzahlungsforderungen der Bundesregierung, bevor diese sich über-haupt geäußert hat.
Der Berliner Fahrgastverband IGEB begrüßt, dass endlich in breiter Öffentlichkeit kritisch über dieses Projekt diskutiert wird, fordert aber zugleich eine Versachlichung der Diskussion. Was ist zu tun?
- Trotz Planfeststellung muss der U5-Bau auf zunächst unbestimmte Zeit verschoben werden.
- Um Kosten und Nutzen der U5-Verlängerung herauszufinden, sind seriöse Untersuchungen überfällig. Dass bei Berliner Tunnelprojekten die Kosten anfangs stets "schön gerechnet" werden, zeigen nahezu alle U-Bahn-Bauten und ganz besonders der Tiergartentunnel. Bei der U5 wurden aber außerdem die Fahrgastzahlen "schön gerechnet". Berechnet wurde nur der Fall einer U5-Verlängerung vom Alexanderplatz bis Moabit (U-Bf Turmstraße). Diese Verlänge-rung ist aber auf lange Sicht unrealistisch. Deshalb muss jetzt der für alle Großinvestitionen zu ermittelnde Nutzen-Kostenfaktor für den Abschnitt Alexanderplatz - Lehrter Bahnhof separat ermittelt werden. Dabei ist offen zu legen, welche Maßnahmen bzw. Auswirkungen bei anderen Linien wie der parallelen S-Bahn (Stadtbahn) und U2 zu erwarten sind, damit der Nutzen-Kosten-Faktor über 1 liegt.
- Um die durch den Aufschub des U5-Baues jetzt frei werdenden Gelder nicht verfallen zu lassen, sind diese in den Straßenbahnausbau und in die Sa nierung des U-Bahn-Netzes im Ostteil Berlins zu stecken. Auch für die Berliner U-Bahn gilt, was die große Bahn (DB AG) inzwischen erkannt hat: Die Ertüchtigung des vorhandenen Netzes ist wichtiger als der Streckenneubau.
6. Kein Geld, kein Fernbahnhof?
Am heutigen S-Bf Papestraße ist einer der wichtigsten Berliner Fernbahnhöfe geplant. Doch weil der Tiergartentunnel und der Lehrter Bahnhof erheblich teurer als geplant werden, soll u.a. auf "Papestraße" verzichtet werden. Der Berliner Fahrgastverband IGEB hält den Bahnhof jedoch für unverzichtbar.Dass alle Maßnahmen beim Ausbau des Eisenbahnnetzes in Berlin länger als geplant dauern, daran haben wir uns ja leider längst gewöhnt. Doch dass nun eines der wichtigsten Bahn-hofsprojekte ersatzlos gestrichen werden soll, ist nicht hinnehmbar.
- Ein Fern- und Regionalbahnhof im Bereich Papestraße ermöglicht mit dem Umsteigen auf mehrere S-Bahn-Linien, insbesondere auf den Südring, eine hervorragende Feinverteilung der Reisenden in alle Berliner Südbezirke, also für mehr als eine Million Menschen.
- Ohne den Fern- und Regionalbahnhof Papestraße wird der Lehrter Bahnhof vollkommen überlastet sein, da die Bahnsteige und Treppenanlagen dort wegen des begrenzten Platzes und der hohen Kosten knapp dimensioniert sind.
- Beim Projekt "Papestraße" sind erhebliche Kosteneinsparungen möglich, wenn insbesondere auf die gigantischen Parkhäuser für mehr als 2000 Au tos verzichtet wird.
- Der Bahnhof Papestraße kann stufenweise realisiert werden. Am dringlich sten, aber auch am billigsten (und deshalb in der ersten Stufe zu reali sieren) sind die Regionalbahnsteige, um den täglich fahrenden Berufs pendlern möglichst bald kurze Wege zu ermöglichen.
- Finanzierbar wäre diese erste Ausbaustufe aus den Transrapidgeldern. Nach dem überfälligen Verzicht auf die Transrapidstrecke Berlin - Hamburg müssen die 6,1 Mrd DM jetzt für die Eisenbahninfrastruktur ausge geben werden, denn die Transrapidplanung hat erheblich zum Zeitverzug und zu den Mehrkosten beim Ausbau des Berliner Eisenbahnnetzes beigetragen. Zum Ausgleich ist ein Teil der Transrapid-Mittel für den Bahnbau in Berlin einzusetzen.
7. Erfolgreich
Das Fahrgastzentrum Berlin ist seit einem Jahr im S-Bf Jannowitzbrücke zu finden.Wer Probleme mit Bussen und Bahnen in und um Berlin hat, kann sich seit vielen Jahren an das Fahrgastzentrum Berlin wenden, einer gemeinsamen Ein richtung des Berliner Fahrgastverbandes IGEB, des Verlages GVE (Gesellschaft für Verkehrspolitik und Eisenbahnwesen) und des Deutschen Bahnkunden-Verbandes (DBV), Landesverband Berlin. Hier werden Beschwerden entgegengenommen, Informationen gegeben und vielfältige Materialien rund um den öffentlichen Verkehr verteilt bzw. verkauft. Kompetente Ansprechpartner stehen den Kunden der öffentlichen Verkehrsunternehmen zur Verfügung.
Das Fahrgastzentrum ist von Montag bis Freitag jeweils von 15 bis 19 Uhr für alle Fahrgäste ge-öffnet.
Als das Fahrgastzentrum vor gut einem Jahr in den S-Bf Jannowitzbrücke ein zog, war dies - be-dingt durch Bauarbeiten - als Übergangslösung gedacht. Doch dieser Standort hat sich bewährt. Noch nie fanden so viele Fahrgäste, die nicht einem der Fahrgastverbände angehören, den Weg zum Fahrgastzentrum. Damit konnten die Verbände einen noch besseren Einblick bekommen, was die Fahrgäste in Berlin und auf den Wegen von und nach Berlin erfreut, verunsi chert oder gar verärgert.
Übrigens: Der Berliner Fahrgastverband IGEB wird im Juli diesen Jahres 20 Jahre alt.