Pressemitteilung vom 5. Januar 2005

VBB-Tarife 2005

  1. Was planen BVG und S-Bahn?
  2. Die Rechtfertigungen
  3. Was sind die Ursachen?
  4. IGEB-Forderungen zum VBB-Tarif 2005
  5. Jetzt sind alle gefordert: Senat, BVG und S-Bahn

Materialien zur Pressekonferenz am 5. Januar 2005 im Fahrgastzentrum im S-Bahnhof Jannowitzbrücke

1. Was planen BVG und S-Bahn?

Zum 1. August 2005 wollen BVG und S-Bahn GmbH die Nahverkehrstarife in Berlin ein weiteres Mal anheben. Während die Preise für Einzelfahrausweise und Tageskarten weitgehend oder vollständig stabil bleiben sollen, wollen die Verkehrsunternehmen die Preise der Zeitkarten erheblich erhöhen.

derzeit geplant zum 1.8. Veränderung

Berlin AB
- Monatskarte 64,00 € 67,00 € + 4,7 %
- JahresAbo 640,00 € 670,00 € + 4,7 %
- Jahreskarte 608,00 € 650,00 € + 6,9 %

Berlin ABC
- Monatskarte 79,50 € 83,00 € + 4,4 %
- JahresAbo 795,00 € 830,00 € + 4,4 %
- Jahreskarte 755,50 € 805,00 € + 6,6 %

Schülerticket 26,00 € 22,00 / 31,00 € * - 15,4 / + 19,2 %
Geschwisterkarte 16,00 € 22,00 / 31,00 € * + 37,5 / + 93,8 %

* 22 € für Schüler bis unter 14 Jahren, 31 € für Schüler ab 14 Jahren
Durchschnittl. Anstieg der Verbraucherpreise in Berlin Nov 2003/4 + 2,3 %

Was bedeutet das?

Die Stammkunden, die dafür sorgen, dass Gelegenheitskunden ein zumeist sehr attraktives Nahverkehrsangebot vorfinden, jeden Tag, 24 Stunden lang, werden erneut überdurchschnittlich "abgeschöpft". Dieses Wort der Ökonomen verdeutlich die Zielrichtung: Bei Zeitkarteninhabern, Erwachsenen wie Schülern, erwarten die Verkehrsbetriebe, dass den angenommenen Verlusten durch einzelne abspringende Kunden größere Mehreinnahmen durch den erhöhten Tarif gegenüberstehen, so dass unter dem Strich ein Plus herauskommt. Anders ausgedrückt: Von z.B. 100 Fahrgästen 10.000 € einzunehmen, ist wirtschaftlicher, als von 110 Fahrgästen 9.800 € zu erhalten. Das verkehrs-, umwelt- und sozialpolitische Ziel, möglichst viele Menschen vom Auto in die öffentlichen Verkehrsmittel zu locken, bleibt dabei natürlich auf der Strecke.

Verkehrs-, Umwelt- und Sozialpolitik betrachten die Verkehrsbetriebe nicht als ihre vorrangigen Unternehmensziele. Mag man hierfür angesichts des Kostendrucks, unter dem die Unternehmen stehen, noch ein gewisses Verständnis haben, so bleibt unverständlich, dass auch der Berliner Senat sich hier seiner Verantwortung für die Gesamtentwicklung Berlins entzieht.

Unverständlich bleibt aber auch, dass die Verkehrsbetriebe die Höhe der Schülertarife immer nur unter dem Aspekt der "Tarifergiebigkeit" diskutieren. Warum sehen die Betriebe nicht die große Chance, durch frühzeitiges preisgünstiges Heranführen der Schüler an den ÖPNV auf diese Weise die Stammkunden der Zukunft zu gewinnen? Besser sollten die Werbeetats gekürzt werden. Denn preiswerte Schülerkarten sind Werbung, nachhaltige Werbung.

Aktueller Nachtrag

Inzwischen haben BVG und S-Bahn angeregt, die Tarife für die Schülermonatskarten unverändert zu belassen und stattdessen die Gleitregelungen bei den Monatskarten abzuschaffen. Jede Monatskarte würde somit wieder vom ersten bis zum letzten Tag eines Kalendermonats und nicht beispielsweise vom 15. Januar bis zum 14. Februar gelten.

2. Die Rechtfertigungen

Viele der seit Jahren bekannten Rechtfertigungen für regelmäßig über der allgemeinen Preissteigerungsrate liegende VBB-Tarifsteigerungen sind oft nur bedingt tragfähig oder geradezu unseriös.

2.1 Die Energiekosten

Es ist unstreitig, dass die Energiekosten in den letzten Jahren überdurchschnittlich gestiegen sind, aber diese haben an den Gesamtausgaben der BVG nur einen Anteil von rund 5 bis 7 %. Auch bei der S-Bahn liegt der Wert mit Sicherheit unter 10 %.

2.2 Der Vergleich mit anderen Verkehrsverbünden

In Berlin sei das Fahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln angeblich besonders günstig. Diese Argumentation ist in zweifacher Hinsicht unredlich:

  1. Die Menschen in Berlin verdienen weniger Geld bzw. haben weniger Geld zur Verfügung als die Menschen in München, Stuttgart, Düsseldorf oder Hamburg. Alle Daten zur Einkommensentwicklung bzw. zu den für Konsum verfügbaren Haushaltseinkommen, zeigen, dass die Differenz je nach Faktor und Erhebungsmethode bei 10 bis 30 % liegt. In ländlichen Regionen Brandenburgs, z.B. der Uckermark, liegt die Differenz sogar bei 50 % und mehr.
  2. Die Fahrgäste in Berlin legen keine weiteren Wege zurück, als die Fahrgäste in anderen Großstädten. Die Argumentation der Verkehrsbetriebe, man könne hier mit der Karte AB ein besonders großes Netz befahren, verkennt die Lebenswirklichkeit der Fahrgäste, die versuchen, ihre Fahrten zu Arbeit, Schule oder Sportverein zu minimieren, soweit das möglich ist. Es ist richtig, dass ein Fahrgast von Köpenick nach Spandau oder von Zehlendorf nach Pankow relativ preiswert fährt. Doch wie viele Fahrgäste wollen regelmäßig solch weite Strecken fahren? Derzeit liegt die durchschnittliche Reiselänge der Fahrgäste in Berlin bei 5,5 km.

2.3 Der Durchschnittswert

Mit keiner Zahl wird die Öffentlichkeit so geblendet, wie mit der Angabe einer durchschnittlichen Tariferhöhung. In der Regel errechnen die Beteiligten einen Wert knapp über 3 Prozent. Nach welchen Kriterien sie diesen ermitteln, verschweigen sie vorsorglich.
So wurde der Preis für die Monatskarte AB zum 1.4.2004 um 9,4 % erhöht. Wurde dieser Wert bei der Ermittlung des Durchschnittswertes herunter gerechnet, weil ein Zusatznutzen (Mitnahmemöglichkeit) eingeführt worden ist? Wurde berücksichtigt, dass diese Erhöhung nach nur 8 Monaten erfolgte?
Oder: Wie wurde berücksichtigt, dass viele Erwerber des Einzelfahrausweises nicht 9 % weniger zahlen (2,00 € statt 2,20 €), sondern 82 % mehr, weil die Rückfahrmöglichkeit abgeschafft wurde?
Lediglich in einem Punkt sind wir uns sicher: Die Preiserhöhung für das Sozialticket von 20,40 € (2003) auf 32,00 € (2005), also + 57 %, ist in keine VBB-Tarifstatistik aufgenommen worden.

3. Was sind die Ursachen?

Bei der Ausstattung der Haushalte mit einem Auto liegt Berlin unter den deutschen Großstädten auf dem letzten Platz. Die Berliner und ihre Gäste sind besonders häufige Nutzer des öffentlichen Nahverkehrs. Die Fahrpreise sind im Verhältnis zur durchschnittlichen Kaufkraft der Bevölkerung überwiegend hoch. Und dennoch stecken die S-Bahn und vor allem die BVG in großen finanziellen Schwierigkeiten und haben bei jeder Tariferhöhung bereits die nächste im Hinterkopf. Warum?

Die Liste der Ursachen ist lang. Nachfolgend nennen wir einige bewusst sehr unterschiedliche Beispiele - und die jeweils Verantwortlichen. Allen 10 Beispielen aber ist eines gemeinsam. Sie wirken sich unmittelbar oder mittelbar negativ auf die Unternehmensbilanz von BVG und S-Bahn GmbH aus und führen dazu, dass sich am Ende alle auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen: Ausgleich der Defizite durch Fahrpreiserhöhung.

3.1 Ausgleichszahlungen nach Personenbeförderungsgesetz

Ende 2003 wurden beim großen Steuerkompromiss zwischen Bundesregierung und Opposition die bundesgesetzlichen Regelungen für die Erstattung von Einnahmeausfällen bei Beförderung von Schülern und Schwerbehinderten geändert. Der Berliner Senat verschärfte die Änderungen nochmals zu Lasten der BVG und konnte damit seine Erstattungszahlungen an die BVG im Jahr 2004 um 40 Mio € (- 29 %) reduzieren. Um das Gewicht dieses Einnahmeausfalls deutlich zu machen, sei auf die in der Regel rund 20 Mio € verwiesen, die sich die BVG als Mehreinnahmen bei den letzten Tariferhöhungen jeweils erhoffte.

3.2 Neuer Verkehrsvertrag

Die S-Bahn als bundeseigenes Unternehmen erhält diese Erstattungszahlungen nicht. Aber der erhebliche Anteil der Schülerbeförderung wurde bei den Zahlungen gemäß Verkehrsvertrag vom Land Berlin berücksichtigt. Dies ist eine von mehreren Gründen, warum der Senat seine jährlichen Zahlungen an die S-Bahn um 26 Mio € kürzte. Nur besonders naive Gemüter werden den offiziellen Worten des Finanzsenators (und der S-Bahn GmbH) glauben, dass das keine negativen Auswirkungen auf die Fahrgäste hat.

3.3 Veränderte Sozialgesetzgebung

Die Änderungen der bundeseinheitlichen Sozialgesetzgebung zum 1.1.2005 haben dazu geführt, dass den besonders bedürftigen Fahrgästen weder ein vom Senat durch Zuschüsse an die Verkehrsbetriebe finanziertes Sozialticket (wie bis 2003) noch ein Normalticket zur Verfügung steht, dessen Kosten sie sich unter bestimmten Voraussetzung von den Sozialämtern erstatten lassen konnten (2004). Den Senat kosteten die bisherigen Regelungen rund 17 Mio € (2003) bzw. rund 14 Mio € (2004). Nun braucht das Land Berlin mit Verweis auf die bundesgesetzliche Regelung auf 2005 nicht mehr zahlen. Auch dieses Geld fehlt natürlich dem ÖPNV.

Aufgrund des politischen Drucks, unter den der Berliner Senat nach der Abschaffung des Sozialtickets (und des Arbeitslosentickets und der Seniorenkarte) geriet, übte er seinerseits Druck auf die Verkehrsbetriebe aus, ein Sozialticket Berlin AB zum halben Preis, also für 32 € anzubieten. Unabhängig davon, dass dieser Preis für Viele immer noch zu hoch ist, bedeutet das nichts weiter, als dass die Mobilität dieser Fahrgäste künftig nicht mehr von der Gesellschaft über Steuern, sondern von den Fahrgästen über erhöhte Fahrpreise finanziert wird.

3.4 Straßenbau

Für den Ausbau der Schieneninfrastruktur ist zwar kaum noch Geld vorhanden, aber der Ausbau des Straßennetzes schreitet in Berlin, wenn auch verlangsamt, weiter voran. Selbst so komplizierte und teure Projekte wie die A 113 (Teltowkanalautobahn parallel zum Adlergestell), der Ausbau der B 101 (Marienfelde), die Neubauten rund um die Altstadt Köpenick oder die Verlängerung der Französischen Straße in Berlin-Mitte werden Schritt für Schritt umgesetzt. Anders, als bei jeder Investition in das Schienennetz, werden beim Straßenbau die langfristigen Auswirkungen auf den Haushalt durch kontinuierliche Unterhaltskosten nicht betrachtet.
Ohne hier eine detaillierte Diskussion über Sinn oder Unsinn des Straßenetzausbaus führen zu wollen, dürfte unstrittig sein, dass jedes dieser Projekte das Reisezeitverhältnis zwischen MIV und ÖPNV zu Lasten von Bahnen und Busse verschlechtert und damit Fahrgäste und Fahrgeldeinnahmen kostet.

3.5 U 55 (Lehrter Bahnhof - Unter den Linden)

Für die Erweiterung des Schienennetzes steht bekanntlich immer weniger Geld zur Verfügung. Aber wenn politischer Druck da ist, kann sogar in Berlin eine neue U-Bahn gebaut werden, und sei es nur eine U 55 mit ganzen drei Stationen. Ob die Verantwortung für dieses Projekt nun eher beim Bund oder beim Senat liegt und ob es vielleicht doch gute Gründe gibt, einen vorhandenen Tunnel für den Betrieb auszubauen, kann hier vernachlässigt werden. Entscheidend ist, dass der verkehrlich nutzlose Inselbetrieb der U 55 erhebliche laufende Kosten verursachen wird, die weder Bund noch Senat tragen, sondern die BVG und somit die Fahrgäste.

3.6 Alex II

Auch launische Politiker können zu Fahrpreiserhöhungen beitragen. Das bewies der frühere Stadtentwicklungssenator Peter Strieder, als er den begonnenen Neubau der zweiten Straßenbahnstrecke zum Alexanderplatz erst verzögerte und dann Anfang 2003 plötzlich stoppte. Wäre diese Strecke heute wie geplant in Betrieb, würde die BVG pro Jahr 1 Mio € Betriebskosten sparen und bis zu 0,5 Mio € höhere Fahrgeldeinnahmen haben.

3.7 Straßenbahn- und Busbeschleunigung

Brauchen Straßenbahnen und Busse auf ihren Linien weniger Fahrzeit, können Umläufe und somit Fahrer und Fahrzeuge eingespart werden. Zugleich sind schnellere Linien ein Zeitgewinn für die Fahrgäste. Doch seit Jahren kommt die Beschleunigung in Berlin nicht richtig voran. Einiges wurde erreicht, sehr viel mehr wäre möglich. Doch dann müsste die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung ab und zu auch ein Mal kleine Nachteile für den Autoverkehr in Kauf nehmen. Aber das ist im autogerechten Berlin ein Tabu, gleich welche Parteien die Regierung stellten.

3.8 Qualitätsstandards

Seit Jahrzehnten wird die Ausstattung der Bahnhöfe, Haltestellen und Fahrzeuge verbessert. Auch das kostet Geld und muss vom Fahrgast mit höheren Tarifen bezahlt werden. Deshalb muss in Berlin auch über die künftigen Standards diskutiert werden. Was wollen und was können wir uns noch leisten? Vollkommen unstrittig ist z.B., dass die Zugänglichkeit der S- und U-Bahnhöfe durch Einbau von Aufzügen zügig verbessert werden muss, auch wenn deren Bau und Unterhalt viel Geld kostet. Aber sind bezahlbare Tarife künftig nicht wichtiger als klimatisierte Straßenbahnen und Busse? Und wäre den Fahrgästen im Rollstuhl oder mit Kinderwagen nicht ausreichend geholfen, wenn alle Straßenbahnfahrzeuge nur teilweise niederflurig und somit preiswerter wären?

3.9 Tarifvertrag

Noch ein "heißes Eisen": Viele Arbeitnehmer in Berlin haben stagnierende oder gar sinkende Einkommen. 2003 traf es auch die große Gruppe der im öffentlichen Dienst Beschäftigten, die seither 8 bis 12 % weniger Gehalt haben. Umso größer ist das Unverständnis, dass die Beschäftigten bei der BVG vom Vorstandsvorsitzenden bis zum Busfahrer solche Zugeständnisse bisher nicht machen mussten. In zahlreichen anderen Städten gibt es längst so genannte "Spartentarifverträge" zur Herstellung der Wettbewerbsfähigkeit. Warum nicht in Berlin? Wer den Fahrgästen neue Fahrpreiserhöhungen zumuten will, sollte selbst mit gutem Beispiel vor-angehen, um die Kosten des Unternehmens zu senken.

3.10 "Brötchentaste"

Dieses kleine Beispiel zeigt exemplarisch, wie unterschiedlich das (Un-)Rechtsbewusstsein und das Kostendenken in unserer Gesellschaft sind, wenn es um Autoverkehr bzw. um öffentlichen Nahverkehr geht. Wenn ein Fahrgast sich für seinen fehlenden Fahrausweis damit entschuldigt, er sei ja nur eine Station mit der U-Bahn gefahren, würde ihn die volle Härte des Gesetzes treffen. Er wäre "Schwarzfahrer" und müsste 40 Euro zahlen. Und er würde niemanden finden, der das zum Anlass nähme, solche Kurzstrecke generell von der Fahrpreispflicht auszunehmen.
Will aber ein Autofahrer im gebührenpflichtigen Parkbereich "nur mal eben" ein paar Brötchen holen, ohne dafür Parkgebühren zahlen zu müssen, nimmt sich der Gesetzgeber seiner an und führt die "Brötchentaste" ein, die ein 15-minütiges kostenloses Kurzparken erlaubt. Diese Regelung wird es in Berlin vorerst wohl nur in Spandau geben, aber Berliner Händler fordern bereits eine Ausdehnung. Deutlicher, als mit der "Brötchentaste", kann man die Ungleichbehandlung von Fahrgästen und Autofahrern nicht vorführen.

4. IGEB-Forderungen zum VBB-Tarif 2005

Es wäre unseriös, wenn wir den Eindruck erwecken würden, dass die Tariferhöhung zum 1. August vollständig zu verhindern sei. Aber es muss am bisherigen Konzept der sogenannten Tarifmaßnahmen dringend Korrekturen geben. Zugleich sollten durch zusätzliche Tarifangebote und einige Änderungen bei den Tarifbestimmungen und Beförderungsbedingungen Anreize für neue Fahrgäste und Erleichterungen für die bisherigen Kunden geboten werden.

4.1 Zeitkarten, insbesondere Jahreskarten, weniger stark erhöhen!

Der Berliner Fahrgastverband IGEB lehnt die Verteuerung der Zeitkarten in einer Größenordnung von 4 bis 7 % ab, weil diese Teuerung weit über der Einkommensentwicklung liegt und es keine adäquaten Angebotsverbesserungen gibt, die einen solchen Sprung erklären könnten. Das gilt ganz besonders für die überdurchschnittliche Verteuerung der Jahreskarten. Die Tatsache, dass die Jahreskarten-Kunden mit der Vorausbezahlung den Verkehrsbetrieben einen erheblichen zinslosen Kredit und einen großen Vertrauensvorschuss geben, muss auch künftig mit einem anständigen Rabatt belohnt werden.
Deshalb muss es beim Faktor 9,5 bleiben (Preis einer Monatskarte mal 9,5 ergibt den Preis der Jahreskarte). Der geplante Faktor von 9,7 mindert den Anreiz zur Vorauszahlung erheblich, auch im Vergleich zum Abonnement (Faktor 10 und Ratenzahlungen).

4.2 Familienfreundliche Monatskarten erhalten!

Familien sind nicht generell knapp bei Kasse. Aber es gibt gute Gründe (s.o.), in Berlin auch weiterhin sehr preiswerte Schülermonatskarten anzubieten und damit offensiv zu werben. Eine Umstellung des derzeitigen Schülerkartensystems (1. Kind, Geschwisterkind) auf eine Unterscheidung nach Alter (bis 14, über 14 Jahre) halten wir grundsätzlich für akzeptabel, lehnen aber eine damit einhergehende zum Teil extreme Preiserhöhung entschieden ab. Wenn Eltern von Geschwisterkindern für diese jetzt eine Preiserhöhung von 38 % bzw. 94 % zugemutet werden sollen, ist das instinktlos und dreist.
Sollte es zum eingangs genannten Alternativmodell (Beibehaltung der Schülerkarten, Abschaffung der gleitenden Monatskarten) kommen, ist das ein politisch sicherlich konsensfähiger Kompromiss, bestärkt uns aber nochmals in der Forderung, dass die Mehrbelastungen der Tariferhöhung nicht allein von den Stammkunden des "Normaltarifs" getragen werden dürfen.

4.3 Stammkundenpflege ausbauen!

Um die Stammkunden trotz höherer Fahrpreise zu halten, muss der Zusatznutzen ausgebaut werden. Denkbar wäre eine erweiterte Mitnahmemöglichkeit ab 20 Uhr (z.B. statt drei Kindern alternativ ein weiterer Erwachsener), da Bahnen und Busse abends und nachts in der Regel nicht ausgelastet sind. Außerdem sollten Stammkunden wieder einen Gutschein für einen Stadtplan oder ein Fahrplanbuch bekommen.

4.4 Firmenticket erhalten!

Die geplante Reduzierung des Rabattes bei Firmentickets auf 5 % statt bisher 5 bis 15 % macht dieses Angebot unattraktiv und kommt einer Abschaffung gleich. Denn für viele Fahrgäste wird die Ermäßigung von 5 % keine Motivation sein, sich deshalb eine Karte mit dem Nachteil einer nicht vorhandenen Übertragbarkeit zu kaufen.

4.5 Anreize für zusätzliche Zeitkartenkunden bieten!

Die 10-Uhr-Karte ist ein wichtiges Angebot, insbesondere für Senioren. Aber sie ist mit 49,50 € im Monat zu teuer. Deshalb muss den Kunden hier, wie bei den anderen Zeitkarten, die Möglichkeit gegeben sein, den Preis durch ein JahresAbo oder eine Jahreskarte zu senken.

Unbefriedigend ist nach Einschätzung der Verkehrsbetriebe die Nutzung der Freizeitkarte. Deshalb sollte versucht werden, sie mit einer etwas attraktiveren Abendregelung ins Gespräch zu bringen. Der Berliner Fahrgastverband IGEB schlägt vor, dass die Freizeitkarte montags bis freitags bereits ab 18:00 statt 18:30 genutzt werden darf. Dann können Inhaber dieser Karte diese besser für einen abendlichen Einkauf nutzen.

4.6 Kurzstreckenregelung muss gerechter werden!

Fahrgäste, die nur eine kurze Strecke fahren, dabei aber Umsteigen müssen, werden doppelt bestraft: mit der Unbequemlichkeit und dem Zeitverlust des Umsteigevorgangs und mit dem Ausschluss vom Kurzstreckentarif. Diese strukturelle Ungerechtigkeit ist mit den Linienänderungen durch "BVG 2005 plus" wieder ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Deshalb fordert der Berliner Fahrgastverband IGEB, dass eine kurze Strecke künftig immer auch die Nutzung des Kurzstreckentarifs ermöglicht, selbst wenn ein Fahrgast dabei einmal Umsteigen muss. In Potsdam ist das möglich, warum nicht auch in Berlin?

4.7 Das Risiko, unfreiwillig "Schwarzfahrer" zu werden, kann und muss gesenkt werden!

In den letzten beiden Jahren gab es vermehrt Beschwerden, weil insbesondere BVG-Fahrgäste sich als "Schwarzfahrer" kriminalisiert fühlten. Deshalb sind dringend einige Maßnahmen geboten, die das Risiko, unbeabsichtigt zum "Schwarzfahrer" zu werden, deutlich senken.

  1. Der Absatz 5.3.1 der Tarifbestimmungen verlangt, dass Fahrgäste mit Einzelfahrausweis beim Umsteigen den "jeweils nächstfolgenden Anschluss in Richtung auf das Fahrtziel" nutzen müssen. Wer also im Bf Friedrichstraße umsteigt und hierbei das Ladenangebot der Bahn nutzt, riskiert, als "Schwarzfahrer" abkassiert zu werden. Das muss geändert werden.
  2. Der § 6 der Beförderungsbedingungen muss so geändert werden, dass Bahnsteige auch ohne Fahrausweis betreten werden können und dass erst die Inanspruchnahme einer Beförderungsleistung eine Fahrausweispflicht auslöst. Erforderlich ist dieses z.B., um als Begleitperson einen Fahrgast auf den Bahnsteig bringen und mit ihm gemeinsam warten zu können, was angesichts zunehmend personalfreier Bahnhöfe eher zunehmen wird. Außerdem muss es möglich sein, z.B. beim Defekt eines Automaten den Bahnsteig zum nächsten Automaten überqueren zu können, ohne zum "Schwarzfahrer" zu werden.
  3. "Transitfahrten" müssen in ausgewählten Fällen ermöglicht werden. Wenn z.B. Berliner Fahrgäste mit der BVG-Buslinie 395 zum Berliner U-Bahnhof Hönow fahren, befinden sie sich auf einem wenige hundert Metern langen Abschnitt auf brandenburger Gebiet und müssen deshalb einen Fahrausweis ABC lösen, obwohl Quelle und Ziel ihrer Fahrt in Berlin liegen, so dass eigentlich ein Fahrausweis AB genügen würde.
  4. Die Zuverlässigkeit der Fahrscheinentwertung in den BVG-Bussen muss dringend verbessert werden. Derzeit riskiert jeder Kurzstrecken-Fahrgast, durch falsche Entwertung zum "Schwarzfahrer" zu werden. Eine IGEB-Stichprobe ergab in den letzten Wochen, dass bei 15 Fahrten in sieben Fällen falsch entwertet wurde, die Fehlerquote also bei fast 50% lag:

Die nachstehende Auflistung erfolgt in der Reihenfolge

tatsächliche Einstiegshaltestelle /
Fahrscheinaufdruck /
fehlende Stationen zu Lasten des Fahrgastes

Thielallee Ecke Dahlemer Weg / Holländische Mühle / 1 Station
Betriebshof Britz / U Blaschkoallee / 3 Stationen
Otto-Suhr-Allee Ecke Leibnitzstraße / Guerickestraße / 1 Station
Lipschitzalle Ecke Fritz-Erler-Allee / Lipschitzallee Ecke Rudower Straße / 2 Stationen
Thielallee Ecke Dahlemer Weg / Holländische Mühle / 1 Station
Thielallee Ecke Dahlemer Weg / Holländische Mühle / 1 Station
U Stadtmitte - Leipziger Str. / Nikolaiviertel / 4 Stationen

5. Jetzt sind alle gefordert: Senat, BVG und S-Bahn

Die finanzielle Situation der S-Bahn GmbH und vor allem der BVG ist durch die drastischen Kürzungen des Berliner Senats dramatisch. Wollten beide Verkehrsbetriebe die Senatskürzungen durch Fahrpreiserhöhungen kompensieren, wäre der öffentliche Nahverkehr in Berlin für die meisten Fahrgäste nicht mehr bezahlbar. Deshalb fordern wir den Berliner Senat auf, endlich einmal erkennen zu lassen, welche Strategie er verfolgt, damit es in Berlin auch künftig noch ein attraktives und für die Fahrgäste bezahlbares Bahn- und Busangebot gibt.
Zugleich ist die BVG gefordert, die Kostenseite endlich in den Griff zu bekommen. Dazu gehören in erster Linie die Personalkosten, deren Anteil bei über 70 % liegt. Die bisherige Methode, (Personal-)Kostensteigerungen einfach durch Tariferhöhungen und Angebotskürzungen auf die Fahrgäste abzuwälzen, ist angesichts der zukünftig gebotenen Wettbewerbsfähigkeit nicht län-ger praktikabel. Die BVG hat, im Vergleich zu anderen deutschen Nahverkehrsunternehmen, die mit Abstand höchsten Personalkosten. Nur dann, wenn es endlich zum Abschluss des von beiden Tarifpartnern im Grundsatz befürworteten Spartentarifvertrages kommt, hat die BVG eine Zukunftschance und haben die Fahrgäste die Aussicht auf bezahlbare Fahrpreise.
Einen wichtigen Schritt zu einem Tarifsystem, dass nicht nur der Einnahmesteigerung bei den Verkehrsunternehmen, sondern auch der Kundenbindung und Kundengewinnung dient, können S-Bahn GmbH und BVG bereits zum 1. August machen (IGEB-Vorschläge hierzu siehe Kap. 4). Dass die Unternehmen für derartige strategischen Überlegungen inzwischen durchaus zugänglich sind, haben sie in der Vergangenheit zum Beispiel mit den Preissenkungen bei der Tageskarte oder der Wiedereinführung der Kleingruppenkarte gezeigt.

Christfried Tschepe
Vorsitzender
Matthias Horth
Stv. Vorsitzender
Jens Wieseke
Stv. Vorsitzender

© Berliner Fahrgastverband IGEB e.V.