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150 Jahre in der Umlaufbahn

16.07.2021

Die Berliner Ringbahn feiert diesen Samstag Jubiläum - ihr Bau war eine visionäre Tat
»Gerade an der Ringbahn sieht man toll, wie die Stadt sich entwickelt hat«, sagt Sven Heinemann zu »nd«. Der Berliner SPD-Politiker ist seit seiner Kindheit eingefleischter Eisenbahnfan und hat in späteren Jahren bei dem inzwischen verstorbenen Stadtsoziologen Hartmut Häußermann studiert. Bei der Beschäftigung mit der »Strecke ohne Ende« konnte Heinemann beide Interessen miteinander verknüpfen. Pünktlich zum 150. Geburtstag der Berliner Ringbahn hat er nun ein prächtiges Buch dazu veröffentlicht.

»Die Verbindung mit der Industrialisierung und dem Güterverkehr ist unheimlich spannend«, sagt Heinemann. Denn zunächst sollte die zur Eröffnung ihres ersten Teilstücks von Moabit im Osten um Berlin bis Tempelhof am 17. Juli 1871 schlicht »Verbindungsbahn« genannte Strecke hauptsächlich für den Güter- und Militärverkehr gebaut werden. Sie sollte die eingleisige, quer durch die Berliner Straßen verlaufende Verbindung der Kopfbahnhöfe der preußischen Hauptstadt ablösen. Die Kreuzberger Eisenbahnstraße ist nach der einst durch sie führenden Strecke benannt.

Der Startschuss für den Bau der auf Dämmen und in Einschnitten geführten Ringbahn fällt im August 1867 an der Spree in Treptow. Eine Brücke wird errichtet, um den Fluss ausgerechnet an seiner breitesten Stelle zu queren. Ringsherum war damals offene Landschaft. »Als die Ringbahn gebaut wurde, hatte das Vorwerk Boxhagen - die heutige Gegend um das Ostkreuz - gerade mal 100 Einwohner«, sagt Heinemann. »Die heutige Bebauung entstand erst 30 Jahre nach der Eröffnung.« Inzwischen gilt die Ringbahn als Begrenzung der Innenstadt.

Kein Wunder, dass Alexander Kaczmarek, der Konzernbeauftragte der Deutschen Bahn für Berlin, zum runden Jubiläum von einem »Ergebnis vorausschauender und mutiger verkehrspolitischer Entscheidungen« spricht. Die Strecke sei die »Mutter als Ringbahnen«, fügt er stolz hinzu. Heute steht der S-Bahn-Verkehr im Vordergrund der Aufmerksamkeit. Mit täglich rund einer halben Million Fahrgästen auf den sieben Linien von S41 bis S85, die mindestens einen Teil des 37 Kilometer langen Runds befahren, ist es das aufkommensstärkste Teilnetz in Berlin.

Seit Jahren klagen Pendlerinnen und Pendler über drangvolle Enge. Die Züge mit nur sechs statt der möglichen acht Wagen auf den Ringlinien S41 und S42, die außerhalb des Berufsverkehrs auch nur alle zehn statt alle fünf Minuten verkehren, sind dem Andrang schon lange nicht mehr angemessen. Zwar verstärken mittlerweile zusätzliche Züge zu gewissen Tageszeiten den Betrieb, doch einen wirklichen Sprung mit einem Fünf-Minuten-Takt von morgens bis abends und Acht-Wagen-Zügen wird es erst 2023 geben, wenn die neue Fahrzeugflotte der Baureihe 483/484 dort den Betrieb übernimmt. Die ersten zehn Einheiten werden seit Jahresbeginn auf der S47 im Fahrgastbetrieb erprobt.

Geschlossen wurde der Ring übrigens erst 1877 - Berlin war inzwischen von rund 826 000 Einwohnerinnen und Einwohnern 1871 auf rund eine Million gewachsen. 1905 waren es bereits zwei Millionen. Seit 1903 verkehrten im Halbstundentakt Dampf-Personenzüge über den Vollring; die Runde dauerte damals 125 Minuten. Deutlich schneller wurde es mit Abschluss der Elektrifizierung 1929. 78 Minuten dauerte die Runde nun.

Seit Beginn gehörte eine Stichfahrt zum Potsdamer Ringbahnhof am Potsdamer Platz dazu. Erst die Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg führten zur Einführung des Vollringbetriebs, wie man ihn heute kennt. Mitsamt der Konsequenzen für die Fahrgäste: Wird die Runde nicht in der fahrplanmäßig vorgesehenen Stunde geschafft, kommt der Betrieb durcheinander. Es fehlen zusätzliche Bahnsteige, und wegen unzureichender Signaltechnik können am Südring westlich von Neukölln nicht mehr Züge fahren als im Regelfahrplan vorgesehen.

»Der Stand der Infrastruktur von vor dem Zweiten Weltkrieg ist nicht wieder erreicht«, kritisiert Jens Wieseke, Sprecher des Berliner Fahrgastverbands IGEB. Auch die Stromversorgung muss für mehr Verkehr dringend aufgerüstet werden. Und das, obwohl seit 1989 Milliarden Euro in die Strecke geflossen sind, allein der Neubau des Ostkreuzes verschlang rund eine halbe Milliarde Euro. Das Infrastruktur-Ausbauprogramm soll eigentlich Abhilfe schaffen, doch die Berliner Verkehrsverwaltung plant eine Umsetzung beim Ring erst irgendwann in den 2030er Jahren.

Immerhin ist der Betrieb seit Start des Qualitätsprogramms S-Bahn Plus in den letzten Jahren deutlich stabiler geworden. Waren im ersten Halbjahr 2017 nur 92,2 Prozent der Züge auf den Ringbahnlinien pünktlich, lag die Quote im Vergleichszeitraum 2021 trotz eines harten Winters, der viele Störungen mit sich brachte, bei 96,1 Prozent. »Wir wollen die Japaner Deutschlands werden«, verkündete Bahn-Vertreter Alexander Kaczmarek bei der öffentlichen Vorstellung des Programms. Die Eisenbahn des Inselstaates ist bekannt für sekundengenaue Pünktlichkeit. Bei Tokios Ringbahn, der Yamanote Line, müssen die täglich 3,5 Millionen Fahrgäste auch hin und wieder Verspätungen hinnehmen. Wegen der eisernen Disziplin und Heerscharen von Personal liegen diese aber im Minutenbereich. Und das ist in Japan schon Gesprächsthema.

Der Friedrichshainer SPD-Abgeordnete Sven Heinemann hat sich in seinem neuen Buch letztlich auch sehr intensiv mit dem Güterverkehr beschäftigt. Riesige Industrieanlagen mit entsprechendem Aufkommen entwickelten sich links und rechts des Schienenstrangs. Unter anderem der Elektrokonzern AEG am Humboldthain, das Knorr-Bremse-Werk nahe dem Ostkreuz, die Chemiefirma Schering in Wedding. Immerhin letztere hat weiterhin ihren Standort dort, wenn auch ohne Gleisanschluss und aufgegangen im Bayer-Konzern. Auch der Ost- und der Westhafen entstanden am Ring, ebenso der riesige, seit 1991 endgültig geschlossene zentrale Berliner Schlachthof am heutigen Bahnhof Storkower Straße.

»1972 brachte eine entlaufene Kuh den S-Bahn-Verkehr zum Erliegen«, berichtet Heinemann. Er ist bei seinen drei Jahre währenden Recherchen auch auf sehr kuriose Gütertransporte gestoßen. Von der »Hauptsammelstelle der Fleischvernichtungsanstalt des Zentralviehhofs Berlin« wurden Schlachtabfälle in Spezialwagen zur eigentlichen Verwertungs- und Vernichtungsanstalt bei Bernau transportiert. »Der zweite kuriose Güteranschluss war die Leichenverladestelle Halensee«, erzählt Heinemann. In dem kleinen Bau mit Kühlung wurden bis 1944 Särge angeliefert. Täglich ein bis zwei Güterwagen mit der sensiblen Fracht wurden von dort auf die Fahrt zum Südwestkirchhof in Stahnsdorf bei Berlin geschickt. »Es wurde wirklich alles mit der Bahn transportiert«, sagt der Eisenbahnfan. Auch heute würde er sich wieder mehr Güterverkehr auf der Schiene wünschen. »Dafür wäre es wichtig, dass die Gleislücke zwischen Neukölln und Treptow geschlossen und die Fernbahngleise am Südring elektrifiziert werden«, fordert er. Er hofft auch, dass die Autobahnplanung nach Friedrichshain endlich beerdigt wird. »Dann könnte man den ehemaligen Containerbahnhof an der Frankfurter Allee zu einem citynahen Güterverteilzentrum machen«, so Heinemann.

Unwürdiger Gedenkort der Deportation

Die Beschäftigung mit dem Güterverkehr auf dem Ring konfrontierte Heinemann auch mit den Verbrechen der Nazizeit. Denn etwa 30 000 Jüdinnen und Juden wurden ab 1942 vom Güterbahnhof Moabit deportiert. Bekannt ist vor allem das Mahnmal an der Putlitzbrücke. Von dem weitgehend abgerissenen Güterbahnhof ist noch eine der drei Rampen erhalten, auf denen die Menschen in die Güterzüge zu den Vernichtungslagern getrieben wurden. Ein Gleisstück, die erhaltene Rampe 69 sowie 20 Kiefern mit weiß gestrichenen Stämmen bilden seit 2017 einen Gedenkort, der unwürdiger kaum sein könnte. Denn er liegt eingezwängt zwischen Discounterfiliale und Baumarkt. Der Großteil der Rampe ist mit dem Plateau des Supermarktparkplatzes bebaut. »Das Land Berlin müsste sich die Grundstücke sichern und die noch vorhandenen Reste wieder freilegen«, fordert Heinemann. Auf der Fläche sollte auch ein Begegnungsort entstehen. »Hier sind so viele Menschen deportiert worden, dass man dem Ort mehr Aufmerksamkeit widmen muss.«

Autor/Agentur: Nicolas Šustr
Quelle: Neues Deutschland
Medium: Tageszeitung
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