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Zwangsumstieg beim Nahverkehr

02.02.2008

Warnstreik der Berliner Verkersbetriebe legt U-Bahnen, Straßenbahnen und Busse lahm
»Kommse rin, kommse rin«, ruft der rundliche Pendler am S- und U-Bahnhof Alexanderplatz zögernden Fahrgästen zu. »Es ist genug Platz für alle da.« Von Wegen. Wie die Ölsardinen standen gestern Morgen die Menschen in den Zügen der S-Bahn. Einige Fahrgäste konnten sich auch beim besten Willen nicht mehr hineinzwängen und mussten den nächsten Zug nehmen. Der Grund für das Gedränge: Die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) streikten und legten den Nahverkehr der Stadt lahm – und halb Berlin musste in die S-Bahn umsteigen

Die Gewerkschaft ver.di hatte am Donnerstagabend beschlossen, zu einer Arbeitsniederlegung bei der BVG aufzurufen. Der Warnstreik hatte in der Nacht zu Freitag begonnen und soll noch bis heute 15 Uhr dauern. Bis dahin fahren weder die U- noch die Straßenbahnen und so gut wie keine Busse des größten Nahverkehrsbetriebs in Deutschland.

Die S-Bahn, die zum Bahnkonzern gehört, verzeichnete einen starken Fahrgastanstieg. »Wir haben aber schnell reagiert und längere Züge eingesetzt.« Dadurch hätten chaotische Zustände vermieden werden können, so Bahnsprecher Burkhard Ahlert. Bereits gestern seien alle verfügbaren Züge eingesetzt worden. Heute würden die Bahnen wegen eines Bundesliga-Fußballspiels fast doppelt so oft fahren wie sonst.

S- und U-Bahnhof Friedrichstraße, 8 Uhr: Eine Gruppe Schüler streunt um eine verlassene Straßenbahnstation. »Wir kommen viel zu spät zur Zeugnisvergabe. Aber was sollen wir denn machen?« feixen sie fröhlich. Eine junge Frau im dunklen Business-Kostüm ist da schon aufgebrachter: »Können die das nicht ankündigen?« so die Bürofachfrau aus Mitte. »Zumal am Ende wir Arbeitnehmer die Verantwortung für zu spätes Erscheinen tragen«, schimpft sie und verschwindet in einem Taxi.

Mangelnde Information war der Hauptkritikpunkt an dem Vorgehen von ver.di. Besonders deutlich wurde der Vorsitzende des Berliner Fahrgastverbandes, Christfried Tschepe. Der »überfallartige Blitzstreik« sei maßlos. BVG-Chef Andreas Sturmowski zeigte sich empört. »Wir haben ein Angebot vorgelegt, und das heißt eigentlich, dass man darüber redet.« Den Tarifstreit auf dem Rücken der Fahrgäste auszutragen, sei überzogen.

Und zu denen drang die Kunde vom Streik scheinbar nur zögerlich vor. Bis weit in den Vormittag hinein konnte man noch ahnungslose Fahrgäste bedauern, die vergeblich an nicht befahrenen Straßenbahn- und Bushaltestellen ausharrten.

Ver.di-Sprecher Andreas Splanemann hat Verständnis für den Ärger der Fahrgäste. »Aber die Wut der Kollegen über das letzte Angebot unseres Tarifpartners, des Kommunalen Arbeitgeberverbandes (KAV), hat überwogen.« Organisatorisch sei der Streik zwar ein voller Erfolg gewesen. »Aber die Verärgerung der Fahrgäste ist natürlich ein Wermutstropfen«, so Splanemann. Der KAV übte scharfe Kritik am Warnstreik und verwies auf sein Angebot.

Der wirtschaftspolitische Sprecher der Linksfraktion, Stefan Liebich, bezeichnete das Anliegen von ver.di zwar als legitim. Er rief aber zu Deeskalation und neuen Verhandlungen mit dem KAV auf. Ver.di will mit dem Ausstand Forderungen nach acht bis zwölf Prozent mehr Lohn für rund 12 000 BVG-Mitarbeiter unterstreichen.

Alexanderplatz, 10 Uhr: Während oben bei der S-Bahn Höchstbetrieb herrscht, bietet sich im Erdgeschoss ein ungewohntes Bild der Ruhe. Und dort findet man auch Gewinner der Ausnahmesituation: Die Verkäuferin einer Croissant-Kette etwa, die endlich mal Zeit hat, selber einen Kaffee zu trinken.

Autor/Agentur: Tobias Riegel
Quelle: Neues Deutschland
Medium: Tageszeitung
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